Frank Sühnel
Reiseberichte
Die Grenzregion der Oberlausitz, Böhmens und Niederschlesiens kenne ich seit Jahren von meinen Wanderungen sehr gut. Meine Pilgertouren entlang der Via Sacra boten mir die Möglichkeit, diese Landschaften nochmals unter einem ganz anderen Aspekt kennenzulernen. Das sind Erlebnisse, die mein Verständnis für die Landschaft prägen.
Von Kamenz nach Crostwitz
Man denkt immer, man kennt die Gegend. Aber so ist es dann doch nicht. Zumindest nicht ganz. Die Stadt, die Orte, die Straßen, die sind bekannt, weil oft mit dem Rad zu Terminen oder Ausflügen besucht oder durchquert. Zu Fuß allerdings, so die vorweggenommene Erkenntnis, ist es dann ganz anders.
Kamenz, mit seinen sorbischen Namen, der „Kleine Stadt am Stein“ bedeutet, ist der Ausganspunkt der Via Sacra. Leg ich jetzt mal so fest, zumindest startete von dort meine Pilgererkundung, die mich in vierzehn Tagesetappen zu Fuß die neun sakralen Orte in der Lausitz erwandern ließ. Die dortige Klosterkirche mit Sakralmuseum St. Annen ist die erste Station dieser „Straße der Heiligtümer“. Es bleibt bei einer Außenbesichtigung, Corona verschloss die Türen ins Innere. Der Bau aus dem 15. Jahrhundert beeindruckt auch so. Der Weg führt über den Markt, mit seinem nicht so recht ins Ensemble passenden Rathaus, zum wunderschönen Andreasbrunnen, der mir vorher noch nie aufgefallen war. Wohl, weil leider wie so oft, die Marktplätze als Parkplätze missbraucht werden und der Brunnen zugestellt war. Die Fleischbänke erinnern an böhmische Plätze mit ihrem Laubengang.
Eine weitere Kirche, dominant auf der höchsten Stelle der Stadt, St. Marien, noch paar Jahrzehnte älter als die Klosterkirche. Schon imposant. Der umliegende Friedhof atmet Ruhe und Vergänglichkeit.
Genug der Stadt, die Füße wollen nun laufen. Das Herrental mit seiner auch traurigen Geschichte wird der Natur zurückgegeben. Ich kann mich nicht erinnern, schon jemals mehr Zauneidechsen als dort gesehen zu haben, die sich sonnten oder flink umhersausten. Schweigen wir über den Weg durch die Vororte mit manchem Garten des Grauens, gekiest, geschottert, mit unnützen Stauden, eingezäunt, eingezwängt.
Schön wird es wieder im Kamenzer Stadtwald, alte ehrwürdige Bäume spenden Schatten. Der Weg - so angenehm wie überraschend. Mal an einem Feldrand entlang, mal alleeartig, mal über grüne Felder.
Der Kirchturm der Nebelschützer Kirche taucht als Wegmarke auf, wird aber links liegen gelassen. Schön restaurierte historische Wegweiser aus Granit erinnern an die alten Relationen, die ihre Bedeutung verloren haben.
Ein Stück uraltes grobes Pflaster bei Sandgrube versetzt einen in diese Vergangenheit. Das erste Dorf ist erreicht, Wendisch Baselitz. Wie der Name schon sagt, wendisch, also sorbisch. Sogleich zeigt sich die Einzigartigkeit dieses slawisch geprägten Gebietes. In fast jedem Gehöft steht ein goldglänzendes gepflegtes Kruzifix, ebenso an vielen Wegkreuzungen. Relieftafeln mit biblischen Szenen begleiten den Wanderer auf dem Weg durch den Ort. Die sorbische Bevölkerung hat ihren katholischen Glauben nie aufgegeben und bezeugt ihn offen. Aufgegeben haben leider die Kneipen und Läden, so dass es nötig ist, alle Labung mit sich zu führen. Denn nach nun etwa zehn Kilometern regen sich Hunger und Durst.
In Wendisch Baselitz trifft der Weg, den ich mir ausgesucht habe, auf die Via Regia. Diese Königsstraße, dieser Pilgerweg aller Pilgerwege, führt allerdings sehr oft auf asphaltierten (Rad)Wegen, an Straßen entlang. Auf die Schönheit, auf das Angenehme des Gehens hat dort wohl keiner Wert gelegt. Aber nicht nur die sakralen Bauwerke, die Kunstschätze sind das Ziel, sondern ebenso der Weg und die Natur. Das ist für mich wichtig. Vielleicht auch manchem, der dann diese Via Sacra entlangpilgern will.
Ein besonderer Höhepunkt ist die Betsäule, ein barocker Bildstock, bei Dürrwicknitz, die mitten auf einer Wegkreuzung steht. Schön, von besonderer Wirkung, alles läuft auf sie zu, alles führt von ihr weg. Vor dort sind fast schon die Türme des Klosters St. Marienstern zu sehen. Ein erster Jacobspilgerer begegnet mir, die Muschel am Rucksack weist ihn als solchen aus. Man grüßt sich, tauscht sich aus, zum Weg, zum woher. Wohin ist ja klar. Wieso ich in die falsche Richtung ginge? Ich erkläre es ihm. So recht will es ihm nicht einleuchten. Wir wünschen uns guten Weg. Bis Santiago ist es noch ein Stück.
Das Kloster St. Marienstern. Was für eine Anlage. Harmonisch, ästhetisch. Aber irgendwie nicht sehr lebendig. Gut, Corona, alles hat zu. Die Kirche ist jedoch offen. Es erschlägt mich ein wenig. Dieser Pracht, dieser Prunk, dieser Protz. Ich muss sofort an einen Österreicher denken, der angesichts des noch mehr überladenen Stiftes Melk ausrief: „Diese barocke Scheiße“. Österreicher eben. Aber so unrecht hat er nicht. Es kommen angesichts dieses, wenn auch vergangenen, Reichtums auch kritische Gedanken. Dennoch kam man sich von der Atmosphäre des Ortes gefangen nehmen lassen und es ist zu spüren, auch für den Atheisten, was Glauben sein kann.
Eigentlich ist Panschwitz- Kuckau ein geeigneter Ort, die Etappe zu beenden. Doch ich habe mir vorgenommen, bis nach Crostwitz zu gehen, damit es eine Tagestour wird. Noch ein paar Kilometer, entlang einer Halballee, durch Felder und Gebüsche. Immer wieder öffnen sich schöne Blickbeziehungen. Der Kirchturm ist schon von weitem zu sehen und diesmal das Ziel. Die Pfarrkirche „St. Simon und Juda Thaddäus“ ist ein ganz typischer spätbarocker Kasten, wie er so ähnlich oft zu sehen ist. Das Besondere ist der kunsthandwerklich beeindruckende Kreuzweg entlang der Friedhofsmauer.
Und hier liegt der wohl bedeutendste sorbische Schriftsteller, Jurij Brězan, begraben. Es ist sorbisches Kernland, gut zu erkennen an den vielen Kruzifixen und religiösen Statuen. Anders als die deutsch besiedelten Dörfer, eine doch andere Kultur, konservativ, aber weltoffen, gastfreundlich, liebenswürdig. Die Pilgerherberge von Monika, ich kenne nur ihren Vornamen, kann mich aufnehmen, auch wenn ich kein Jacobswegpilgerer bin, sondern Via Sacra Pilgerer. Mit einem kleinen Staunen beende diese erste Via Sacra Etappe, überrascht davon, wie vielfältig sie war, was Natur und Kultur betrifft aber auch all die kleinen Dinge am Wegesrand.
Von Crostwitz nach Bautzen
Um es vorweg zu nehmen, diese Etappe war mir persönlich mit die Unangenehmste. Fast nur auf Asphalt, fast nur auf befahrenen Straßen. Das mag auch der härteste Pilger nicht. Und doch hat auch sie ihre Reize und Besonderheiten.
Zum Glück ist nicht Sonntag oder Montag, so kann ich beim Bäcker in Crostwitz duftenden Kuchen kaufen. Das Frühstück ist gesichert. Die Leute aus der Stadt würden über die niedrigen Preise staunen. Vorteil Landleben: günstige Bäcker. Noch einmal zur Kirche, die offen ist. Für ein katholisches Gotteshaus ist sie geradezu schmucklos. Eine Runde im Friedhof, die interessante Kreuzwegs Darstellung noch einmal ansehen… Und da der Pilger im Dorf dabei mehrmals das Bächlein Satkula kreuzt, kommt einem natürlich sofort wieder Juri Brezan, der sorbische Schriftsteller, in den Sinn, der hier begraben liegt. Und auf dessen Grabstein steht:… wono by było hinaše morjo hdy by njepřiwzało tež wodu rěčki Satkule. – „Es wäre ein anderes Meer, würde es nicht auch das Wasser des Baches Satkula aufnehmen.“ Was für ein schöner Satz. Ich mag die Bücher des Sorben sehr und das Bächlein spielt oft eine geradezu mystische Rolle in einigen seiner Werke.
Schon nach nur wenigen hundert Metern trifft der Pilgerweg auf die Straße und wird sie bis Bautzen kaum mehr verlassen. Wöllte ich den blechbelebten Asphalt meiden, so bliebe nichts anderes, als im Zickzack auf schlammigen Feldwegen und viel querfeldein durchs grüne Getreide zu laufen und ich bräuchte bis Bautzen zwei Tage.
In Prautiz, dessen Rand man streift, steht eine schöne Betsäule von 1810. Ach, man müsste sich mit den ganzen Heiligen besser auskennen, dann wüsste man, wer der Herr auf der Säule ist und was er in den Händen hält. Der ganze Weg ist gesäumt von Kruzifixen, an jeder Straßenkreuzung eines und an vielen Gehöften. Meist mit goldenem Jesus, bis fast lebensgroß. Die Sprüche darauf sind ausschließlich in Sorbisch. Das ist einzigartig, dass derartig viele religiöse Zeugnisse und wohl auch Bekenntnisse zu sehen sind.
Hinter dem Abzweig nach Nucknitz, welches mir durch das Metal-Festival Nukstock ein Begriff ist, beginnt eine sehr schöne Allee. Die zieht sich fast bis Storcha. Ein lustiger Ortsname, deren es einige in der Gegend gibt. Der schönste ist Dreikretscham. Was so viel wie Drei Kneipen bedeutet. Die soll es an der Furt durch das Schwarzwasser mal gegeben haben. Ich wäre froh, wenn die eine, die es noch gibt, durstige Pilger bewirten würde. Aber es steht dran, dass zu Zeit nur für Familienfeiern und ähnliches offen ist. Schade.
Überhaupt, auf der ganzen Strecke bis Bautzen gibt es als einzige Möglichkeit, sich zu erfrischen, die Bäckerei in besagtem Storcha. Traurig. Sitzen die Leute, die hier leben, abends immer zu Hause? Die Sorben sind mir doch als feierfreudiges, geselliges Völkchen bekannt. Es wird wohl die eine oder andere zweckentfremdete Garage oder Scheune geben, anders kann ich mir das nicht vorstellen.
Immer wieder stören die vorbeirasenden Autos das Gehen. Die Straßen sind eng, so dass der schwächere Verkehrsteilnehmer auf die Bankette oder gar in die bis zum Straßenrand geackerten Felder der häufigen Agrarwüsteneien ausweichen muss. Oft wird gefahren, als gelte es das Leben. Die Menschen haben scheinbar keine Zeit mehr. Ich pilgere, habe alle Zeit. Und ein Verkehrsopfer ist auch gleich zu sehen. Ein großer, überfahrener Feldhase liegt am Straßenrand, ein Bussard und eine Krähe streiten sich um den Kadaver. Nur widerwillig fliegen sie auf, als der Pilger näherkommt. Der kürzlich verstorbene Rüdiger Nehberg hätte einen Festtag gehabt. Ich dagegen denke, dass es in Bautzen was zu Essen geben wird. Aber bis dahin ist es noch weit.
Ein schöner Platz für eine Pause ist das sogenannte Millenniumsdenkmal. Dargestellt sind die Slawenapostel Cyrill und Method, die den christlichen Glauben in die slawischen Lande brachten. Und denen wir zu verdanken haben, dass wir uns in der Schule im Russischunterricht mit den kyrillischen Buchstaben abplagen mussten.
Ein bisschen mager sind die beiden, wie sie so über das Land schauen. Waren die so dünn oder war einfach die Bronze zu teuer? Wer weiß. Einige steinerne Sühnekreuze vervollständigen das Ensemble.
Zäh zieht es sich nun Richtung Bautzen. Jacobspilger kommen mir entgegen, vier Wochen haben sie Zeit und wollen sehen, wie weit sie kommen. Die Asphaltlatscherei haben sie aber schon satt.
Durch Salzenforst und Schmola quäle ich mich noch durch, die Autobahn dröhnt und stinkt. Doch die Türme von Bautzen sind schon zu sehen. Ein Lichtblick. Es wird wieder schick, das Spreetal, dann der Aufstieg durch die alten Gassen in die Stadt. Da ich auf der Via Sacra pilgere besuche ich natürlich gleich die Kirche mit dem Knick. Warum der Dom ein wenig um die Ecke gebaut ist weiß keiner so recht. Vielleicht hatte man sich mit der Ausrichtung nach Osten ein wenig vertan und im Bau korrigiert. Andere sagen, man folgte einem Fels im Untergrund. Die zweite Besonderheit: es ist eine Simultankirche, die erste in Deutschland und eine der größten. Am Gitter, welches die Kirche teilt, konnten sich Evangelen und Katholiken treffen.
Ich bringe mein kleines Pilgergepäck in die Unterkunft. Es gibt eine große Auswahl, allen gemeinsam ist, dass sie nicht billig sind. Trotz asphalt- und pflastermüder Füße schlendere ich durch die schöne geschichtsreiche Stadt. Als Wahlpulsnitzer schaue ich mir natürlich den Rietschel-Giebel an. Vorm Senfladen drängt sich eine Touristengruppe und ich muss an den herrlich schrägen Song von Foyer des Arts, „Tun sie Senf drauf“ denken und lache. Was es zu lachen gäbe, werde ich gefragt. Ach, nichts. So endet die zweite Etappe auf der Via Sacra.
Von Bautzen nach Cunewalde
Heute geht es in die Berge. Nun gut, Hügel. Aber immerhin. Das Ziel ist Cunewalde-Weigsdorf, mit einem großen Zacken, der über den Czorneboh führt. Nach der vorherigen Asphaltlatscherei packe ich vorfreudig den Pilgerrucksack. Der Blick auf die Karte zeigt, dass es unterwegs zwei Einkehren gibt. Aber es sind unruhige Zeiten, Corona, mehr muss man da nicht sagen. Also getreu dem alten Spruch „lieber ham als hätte“ lieber noch einen Besuch im Supermarkt, der Weg aus Bautzen heraus bietet fast die ganze Palette. Die Strecke zieht sich ein wenig und wenn man in diesen gesichtslosen Vororten, unwissentlich hineintransferiert, früh aufwachen würde: ja wo bin ich? Keine Ahnung. Denn sie sehen sich alle so ähnlich. Wie die Jahresringe, in dem Fall Jahrhundertringe: Historische Innenstadt (hoher Wiedererkennungswert), Gründerzeitring und Villengürtel (bedingter Wiedererkennungswert), Neubaugebiete und die ganz neu Baugebiete mit Reihenhäusern (kein Wiedererkennungswert).
Doch dann beginnen die Wiesen, es ist Mai und vielerorts blüht es wunderbar. Ginster, Kamille, Kornblumen, Glockenblumen, Mohn und Klee. Dazwischen natürlich auch Agrarwüstenei ohne Blühstreifen, geackert bis an den Weg, ja wo leben wir denn. Ja, wir leben auch da, wo vor weit über tausend Jahren schon Leute siedelten, zu sehen an dem Ringwall auf dem Berg Schmoritz, Alter mindestens 1400 Jahre. Was gäbe ich drum, einmal durch die Zeit reisen zu können und dieses Land durch viele Jahrtausende hindurch zu besehen. Wie haben die Wälder ausgesehen, wie die Menschen? Das wäre sehr spannend.
Von dem ehemaligen Wallberg ist es nicht weit bis zur Roten Schenke, fröhlich schreitet der Pilger ob dieser Aussicht aus. Angeschrieben steht als Sonderangebot „Schwarzwälder Torte“. Da haben sie mich schon erwischt. Bei Schwarzwälder wird der Bierliebhaber schwach. Denn:
Ohne Torte, Kuchen und Gebäck
Hat das Leben keinen Zweck.
Aber leider, leider, sie erfüllt die Erwartungen nicht. Doch gut, es war auf, es gab etwas und das ist schon viel Wert.
Nun beginnt der schönste Abschnitt der heutigen Pilgerstrecke, der Kammweg hin zum Czorneboh. Hier hat der Teufel harte Arbeit gehabt, so viele Plätze es gibt, die mit ihm in Verbindung gebracht werden. Besonders schön ist der „Teufelsfuß“, da muss er in furchtbarer Wut wild aufgestampft haben, so tief ist der Abdruck. Bestimmt war die Kneipe zu.
Es folgt das „Teufelswaschbecken“. Das ist im Vergleich zum Fußabdruck sehr klein, aber wer würde denn vom Teufel ausgeprägte Hygiene erwarten, ich jedenfalls nicht. Und abgesehen davon, der Ranger und der Pilger waschen sich ausm Zahnputzbecher und sind so sauber wie ein gebadeter Bürger. Kurz vom Czorneboh noch das „Teufelsfenster“, da hat er immer rausgeschaut. Ob er freundlich gegrüßt hat?
Ein schöner Weg, der immer wieder mit zackigen Felsen aufwartet, die zu erkraxeln Freude macht. Oben angekommen auf dem Berg, auf dem Schwarzen Gott, wie es übersetzt ins Deutsche heißen könnte, muss man sich auf den Turm bemühen, um Aussicht zu haben. Also erst die Arbeit, also Treppe und Rundblick, dann das Vergnügen, in dem Fall ein frisch gezapftes Landskron, auch zwei, eventuell. Dazu eine Bockwurst vom Kiosk. Ich lausche dem Gespräch der beiden Budenbediener und die sagen, es wären noch gut zehn Bockwürste im Topf. Und machen daraufhin den Laden zu, trotz weiter heranströmender Bergbesucher. Feierabend, 16 Uhr. Na, vielleicht sind zehn Bockwüstes ja das Abendessen der beiden und es ist wirklich nichts anderes mehr da. Dann wäre es verständlich.
Zum heutigen Ziel, Weigsdorf-Köblitz geht es quasi zurück. Das hat einen ganz einfachen Grund, dass ich diesen Weg einschlage. Ich habe in Cunewalde selbst nicht eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Die einzige eben in Weigsdorf, ein Hotel. Der Weg dahin verläuft oft an der Waldkante, rechts der Wald, links die Wiese voller Margeriten und Glockenblumen. Der Blick kann schweifen, auch hinüber zum Bieleboh, dem Weißen Gott, wie der gegenüberliegende Berg heißt. Das hat mich schon immer fasziniert, Bieleboh und Czorneboh, der Weiße und der Schwarze, das gegensätzliche Prinzip, Himmel und Hölle, Engel und Teufel. In Form von zwei Bergen, herrlich.
Der Pfad führt durch das Dörfchen Schönberg. Und da sind die ersten so hübschen Umgebindehäuser zu finden. Das sorbische Siedlungsgebiet liegt nun hinter mir- der Bergkamm bildet die Grenze, nun bin ich im Umgebindeland. Warum haben die Menschen so umständliche Häuser gebaut? Nur weil es schön ist sicherlich nicht. Man muss nicht alles wissen. Nach langer Pilgerei ist der Wissensdurst nicht mehr so intensiv, dafür eher der ganz profane Durst, der sich gut im Wirtshaus des Hotels stillen lässt. Morgen stehen dann ein interessanterer Höhepunkt der Via Sacra - die Cunewalder Kirche und der Weiße Gott auf dem Zettel, Ziel ist Löbau.
Von Cunewalde nach Löbau
Heute geht es auf den Bieleboh. Doch zuerst ist Cunewalde dran, Via Sacra Station. Das Ränzlein nach üppigem Frühstück geschnürt und los. Noch vor fünfundzwanzig Jahren hätte ich mit dem Zug fahren können, von Weigsdorf nach Cunewalde. Die Einwohner des Ortes lagen der sächsischen Regierung schon 1865 in den Ohren, dass eine Eisenbahn gebaut werden soll. Gedauert hat es bis 1890, dass der erste Zug in Cunewalde einfuhr. Gut einhundert Jahre später ist es schon wieder vorbei, angeblich brauchte keiner die Bahnstrecke mehr. Ich erinnere mich, da noch gefahren zu sein, in grauer Jugend Vorzeit. Nun ist der alte Bahndamm Rad- und Fußweg. Es ist nicht nur das Dorf mit der größten Dorfkirche in Deutschland, es scheint auch eines der längsten zu sein. Von Ortsschild zu Ortsschild gut neun Kilometer. Bis zu den kleinen Umgebindehäusern ist es aber nur eine halbe Stunde.
Am Weg gibt es einen hängenden Badewannengarten, bepflanzte alte schwebende Zinkwannen, originell. Dann die Häuslein. Und ich gebe zu, ich bin überrascht. Positiv. In Erwartung einer verkitschten langweiligen Gartenzwergidylle finde ich einen liebevoll und kenntnisreich und handwerklich sehr gut ausgeführten Miniaturpark, den man sich gerne ansieht. Gebaut haben ihn Leute, die mangels Arbeitsplatzes die Eisenbahn nicht mehr brauchten.
Ein wirklich hübsches Zwergenland. Und die Phantasie springt an, man denkt an Gullivers Reisen und wie das wäre, wenn da in den Häusern überall Leutchen wohnten und nun kommt der Riese in Form eines Pilgers vorbei. Die winzigen Bierkrügeln im Kretscham, Fingerhüte… Und es kommt mir der Gedanke, dass es ja die Lösung unserer Umwelt- und Klimaproblematik wäre, wenn die Menschen auch alle so klein wären, dass sie in diese Häuser passten. Viel weniger Energie-, Ressourcen- und Materialverbrauch. Aber jede streuende Hauskatze wird zur tödlichen Gefahr. Lieber nicht.
Bis zur größten Dorfkirche Deutschlands ist es nun nicht mehr weit. Eine beachtliche uralte Eiche steht vor dem Kirchenbau, die könnte die Geschichte des Gotteshauses erzählen, sie war immer dabei. Außen recht schmucklos, innen dafür sehr hübsch, der sakrale Bau. Der Altarraum mit wirklich schönen Ausmalungen, Die Kanzel ragt in den Kirchenraum hinein, fast schwebend. Ein riesiger Raum mit seinen drei Emporen. Die Orgel entsprechend majestätisch. Über die Hälfte der derzeitigen Einwohner von Cunewalde hätte darin Platz. Ich allerdings bin allein, keine Menschenseele sonst. Ich genieße die Stille. Die Geräusche des Alltags, selbst wenn sie noch zu hören sind, sind weg. Eine meditative Stimmung entsteht, wie in so manchem sakralen Bau, ob nun christlich, buddhistisch, jüdisch, selbst bei mir nichtgläubigem Menschen. Dazu dieser spezielle Geruch, der den alten Kirchen anhaftet. Ich muss mich regelrecht losreißen, um weiter zu gehen.
Wieder schöne Umgebindehäuser, diesmal in Originalgröße. Manche neu mit Plastefenstern versehen. Verständlich, muss man nicht streichen, aber unschön. Über Wiesenwege geht es hinauf auf den Bergkamm, Kornblumen und Gräser blühen, die Pollenallergiker werden niesen. Die Trockenheit der letzten Jahre hat ihre Wirkung getan. Die Fichtenmonokulturen stehen abgestorben, alles braun. Umso unverständlicher, dass schon wieder Neuanpflanzungen mit genau diesen Fichten entstanden sind. Mit der Lernfähigkeit der Menschheit scheint es leider nicht weit her.
Rein felsentechnisch ist der Bielebohkamm nicht so spannend. Die letzte Eiszeit hat da aufgeräumt. Es blieben die Rumpelsteine, ein kleiner Haufen wackelnde Steine. Auch biertechnisch sieht es nicht so gut aus, in der Baude gibt es nur ein scheußliches Reaktorbier. Und es ist irgendeine Verlustigung im Gange, der Schlagerbums dröhnt aus Lautsprechern. Schnell auf den Turm, von dem es herrliche Ausblicke in die Lausitzer Berge gibt. Da wächst die Vorfreude, denn durch dieses Bergland werde ich noch viele Tage pilgern.
Mit jedem Kilometer weg vom Gipfel werden es weniger Ausflügler, Frau Fischer wird leiser und verstummt, bis der Pilger wieder allein auf weiter Flur ist. Immer auf dem Kamm entlang, bis dieser sich in der Landschaft verliert. Der Weg mäandert um die Hügel bis Kleindrehsa, da geht es dann durch den Park des ehemaligen kleinen Schlosses. Zwei Eichen küssen sich, stehen nebeneinander und haben Wülste wie Lippen, die sich berühren, das sieht wunderschön aus. Die Orientierung erfordert in diesem Abschnitt ein wenig Aufmerksamkeit, die Wegzeichen sind oft nicht mehr vorhanden.
Am Wege findet sich der „Bettelstein“, hier sollen früher die Landstreicher Stelldichein gehabt haben. Heute ist keiner da, gibt ja auch keine Landstreicher mehr. Und noch ein kleiner Edelstein liegt am Pfad, der Bubenik, ein Basaltaufschluss, der an die vulkanischen Zeiten der Lausitz erinnert. Löwenköpfchen heißt eine der Steinformationen, mit viel Phantasie und bei Vollmond vielleicht… Wunderhübsch ist der für solche Habitate typische Pflanzenbewuchs. Vor allem die Pechnelke steht in voller Pracht.
Nächster Halt: Löbau, Etappenzielort. Mich beschleicht auch schon ein ganz reelles Hunger- und Durstgefühl, allein, es zieht sich mal wieder. Eine starke Stunde noch, davon die meiste Zeit durch Oelsa und Altlöbau. Man kann wieder die schöne Gestaltung der Vorgärten studieren, akademisch-militärischer Rasen, ein Zwerglein findet sich auch hie und da. Dann erreiche ich die Innenstadt. Ich suche nicht lange herum, die erste offene Tür ist, wie so manches Mal, die des Dönermannes. Er hat die Erzeugnisse der hiesigen Brauerei, bravo und ein Dürüm dazu, schon sieht die Welt wieder ganz erträglich aus. Morgen teilt sich der Pilgerweg. Oben rum, also direkt Richtung Görlitz oder unten rum, Richtung Herrnhut und Zittau. Ich werde das überschlafen.
Von Löbau nach Soland am Rothstein
Es ist eine etwas kürzere Etappe. Nicht, weil man sich beim Pilgern nicht übereilen sollte- das darf man auf keinen Fall. Sondern es liegt mal wieder an der touristischen Infrastruktur oder besser gesagt- an ihrem Fehlen. Der Ort, welcher ein schönes Ziel sein könnte, kann keinerlei Schlafplatz anbieten. Und das Dorf, welches den Schlafplatz anbietet, hat keine Verköstigungsanstalt. Tja. Entweder also man läuft vom Zimmer gut drei Kilometer zur Kneipe und zurück. Oder wieder hinauf auf den Berg, den Rotstein. Da könnte der müde Wanderer auch schlafen. Aber dann wäre die Strecke doch zu kurz und die des nächsten Tages zu lang. Oder man muss sich eben etwas mitnehmen. Getränke gibt es in der Pension. Frühstück auch. Damit sind die Würfel gefallen, mal ein Fernsehabend bei Bemme, habe ich ja sonst nicht. Ich könnte auch einfach in den Tag hinein pilgern. Doch die Gefahr, in der Lausitzer Wildnis Gänsewein trinken und Klee essen zu müssen und dazu im Laub zu schlafen ist einfach zu hoch, das ist mir unbehaglich. Und dann die ganzen Tiere, die einen fressen wollen, Wolf, Bär, Luchs, Säbelzahntiger und wie sie alle heißen, oh nein.
Somit beginnt der Pilgertag mit einer Runde im partiell hübschen Löbau und dem Besuch des örtlichen Lebensmitteleinzelhandels. Der Altmarkt mit seinem Rathaus und einigen schönen Häusern ist gefällig. Leider ohne jedes Grün. Die Touristinformation hat naturgemäß geschlossen. Bemerkenswert ist die Nikolaikirche. Nicht so sehr im Inneren, zu euphorische neuzeitliche Sanierungen haben ganze Arbeit getan. Doch das Portal mit seinen Heiligen ist außergewöhnlich. Die vielleicht interessanteste Stelle Löbaus, mal von der Brauerei abgesehen, ist sicher das Haus Schminke. Da das Kleinod jedoch ganz entgegengesetzt zu meiner Strecke liegt, will ich mir das aufheben. Weil, wenn alles so funktioniert wie gedacht, dann komme ich in zehn Tagen wieder hier angepilgert. In Löbau schließt sich der sakrale Wegeskreis. Und ich habe mich dazu entschlossen sozusagen oben rum zu gehen, im Uhrzeigersinn. Vielleicht geht meine innere Uhr ja auch so. Oben rum. Daher ist das heutige Ziel Sohland am Rotstein.
Verpflegung für Marsch und Klause habe ich erworben. Es ist doch erstaunlich, wie viele Fleischereien Wolf heißen. Nomen est omen, das klappt eben immer wieder. Vorbei am König Albert Bad, das lange kein Bad mehr ist, sondern mehrfacher Sanierungsfall. Ein schönes Gebäude. Nach der Überquerung des Löbauer Wassers geht es immer nur noch bergauf. Durch die niedliche Lindenallee des Friedenshaines zum etwas martialischen Siegesdenkmal und weiter, immer weiter hinauf. Am Wege der Honigbrunnen. Was für ein poetischer Name. Hier soll eine der wenigen Quellen des Löbauer Berges gewesen sein. Es gibt aber nur überteuertes Industriebier.
Nun beginnt ein sehr schöner Pfad um den nördlichen Kegel, den Schafberg, herum. Naturnahe Laubwälder, wilde Steine. Wie der Geldkeller. Leider warte ich vergeblich, dass er sich öffnet und mir seine Reichtümer anbietet. Dafür entdecke ich ein Stück weiter des Weges einen ganz anderen wunderbaren Schatz. An dem Ausblick Oskar Rolle Bank, der schon allein fantastisch ist mit seinem Blick in die Lausitzer Berge, wachsen ganz viele Pechnelken und die sehr seltene Ährige Graslilie. Und noch weitere Schönheiten. Ja, der pilgernde Bierbarbar mag die Blümchen und Pflanzen sehr. Der Löbauer Berg und dann auch weitere, erinnern sehr an die geliebten Böhmischen Berge. Was an der vulkanischen Herkunft liegt. Und vielleicht auch daran, dass bis 1635 die Lausitz zu Böhmen gehörte. Kann doch sein. Auf den Basalten und Phonoliten wachsen eben ganz besondere Gewächse und die scheren sich nicht um irgendwelche Landesgrenzen oder Hoheitsgebiete. Die wachsen einfach, wenn die Umgebung stimmt.
Auf dem Berg haben die Bürger vor vielen Jahren einen ganz absonderlichen Turm gebaut. Der sucht seinesgleichen und findet ihn nicht, denn er ist einzigartig. Und wie der Turm, so der Blick, ganz exzellent. Nur der betonene Telestengel auf dem Schafberg stört. Hätte der nicht auch aus Gusseisen gemacht sein können? Dann hätten die Löbauer noch mehr Berühmtheit statt dieses Ärgernisses.
Hat der Wanderer das reizvolle Bergmassiv verlassen, passiert erst mal nicht sehr viel. Durch zwei Dörfer, an Feldern und Straßen entlang setzt man einen Fuß vor den anderen und pfeift sich eins. Am Rotstein wird es wieder spannend. Denn der ist ebenso vulkanisch, mit sehr schönem Wald bewachsen und vielerlei seltenem Gewächs. Ist deshalb wohl auch das älteste Naturschutzgebiet Sachsens, seit 1912. Komisch, dass es wie das Bad oder der Turm nicht nach einem König benannt ist. Aber mit der Natur hatten und haben es die Mächtigen nicht so, außer wenn es um die Jagd geht. Das hat sich bis heute nicht geändert. Einen Turm gibt es auch. Der ist nicht für jeden geeignet. Wer auch nur leichte Höhenängste hat, der wird sich nicht wohl fühlen. Wer jedoch diese Angst überwindet und dieses Metallstäbchengestell erklimmt, erlebt von hier einen wunderbaren Rundumblick. Ist man noch ein wenig zitterig nach dem Auf- und Abstieg, könnte einem das eventuell insgeheim als Alkoholismus ausgelegt werden, bestellt man in der bergeigenen Kneipe ein Bier. Daher besser vorher den Mut stärken…
Durch den märchenhaften Wald geht es nun hinab ins Dorf. Vorbei am Teufelsstein. Langgezogen ist der Ort. Ich treffe eine junge Dame, die fragt, ob ich etwas brauche. Denn es gäbe hier nichts, sie könnte aushelfen. Das ist sehr nett. Sie erzählt mir von einer Initiative, die einmal im Monat die alte Bäckerei wiederbelebt und dass dort bestellte Lebensmittel abgeholt werden können, quasi wie ein kleiner Dorfladen. Ebenso möchten sie den Laden als Café beleben und den Bewohnern von Sohland einen Ort verschaffen, an dem sie sich treffen und austauschen können. Was mir dabei, leider, als fast symptomatisch erscheint: sie ist, deutlich zu hören, nicht von hier. Den Einheimischen, ist meine Erfahrung auch von anderen Orten, fällt so was eher selten ein. Ich drücke ihr und den paar Mitstreitern die Daumen, dass ihr Vorhaben gelingt. Noch ein paar hundert Meter zur Unterkunft. Die nette Wirtin zeigt, wo die Gerstengetränke zu finden sind und gemütlich auf dem Sofa lasse ich den größtenteils schönen Tag ausklingen.
Von Soland am Rothstein nach Nieder-Rengersdorf
Nach dem gestrigen Abend weiß ich wieder, warum ich das Fernsehen schon seit Jahren aus meinem Leben gestrichen habe. So viel Bier kann die Wirtin gar nicht haben, sich das Programm schön zu trinken. Da kann man schon verstehen, warum so viele Menschen so verzweifelt sind, denen in ihrer Freizeit nicht viel anderes als Fernsehen einfällt. Na, schweigen wir lieber…
Auf die heutige Etappe freue ich mich sehr, denn ich muss gestehen, diese Ecke noch nie betreten zu haben. Die Königshainer Berge und ihre Umgebung. Schon ewig wollte ich dahin. Nun ist es geworden, meine Pilgerreise führt mich mitten durch und über die Berge. Der Anfang der Etappe ist wieder ein wenig zäh und asphaltig. Der einzige Ort mit Einkaufsmöglichkeiten ist Reichenbach OL, also muss ich mich da versorgen für den Tag. Tja, leider gibt es für Substantive respektive Ortsnamen kein Präteritum. Sonst müsste Reichenbach in dieses gesetzt werden.
Reich, das war einmal. Ein wenig des alten Glanzes ist in der Kirche zu entdecken. Sie ist auf und zufällig kommt sogar der Pfarrer vorbei. Eine gelehrte Erklärung ist manchmal so viel wert! Die für evangelische Verhältnisse sehr reiche Ausstattung der Kirche ist auf das Patronat des Adelsgeschlechtes von Gersdorff zurückzuführen. Die hatten in weiten Teilen der Lausitz über Jahrhunderte das Sagen. Im Inneren frühbarock, aber doch ganz schön und beeindruckend, da nicht so überladen und pompös.
Äußerlich ist dem wuchtigen Bau immer noch anzusehen, dass es eine Wehrkirche war. Diese Johanniskirche könnte, denke ich, ohne weiteres mit auf der Via Sacra Liste stehen.
Über flaches Land, durch verschlafene Dörfer führt der, leider oft asphaltierte, Weg. Am Eingang in den Wald steht die „Wundererle“, ein wirklich außergewöhnlicher Baum, zumindest für Menschen, die sich dafür interessieren. Die Legende sagt, dass ein fälschlich zum Tode Verurteilter als letzten Wunsch am Ort des Mordes eine Schwarzerle verkehrt herum pflanzte. Wenn sie austriebe, so sei er unschuldig. Streng genommen hat er damit gegen das Gebot, Gott nicht versuchen zu sollen, verstoßen. Allein, die Erle trieb aus. Was ihm aber nichts nützte, denn der Henker wartete nicht, bis sich die Blättchen zeigten und tot ist tot. Der Geist des wahren Mörders soll noch umgehen. Aber nur nachts und ich war vormittags da.
Durch die von Trockenheit und Borkenkäfer gerupften Wälder steigt der Weg an zu den ersten Felsen der Königshainer Berge. Der Teufelsstein ist ein hübsches Massiv und die Silhouette könnte tatsächlich das Profil des Teufelsantlitzes darstellen. Die Reihe der netten Felsen setzt sich auf dem Gipfel des Hochsteines fort. Ein etwas stabilerer Turm als auf dem Rotstein, aber auch nichts für Menschen mit ausgeprägter Höhenangst, erlaubt normalerweise einen Rundumblick. Aber heute nicht, denn die Wolken ruhen sich auf den Baumwipfeln aus. Die Gaststätte hat wegen Corona geschlossen, aber der Kiosk ist auf, positiv. Die Frage ist, sind das die normalen Preise oder schon mit Kronenaufschlag? Bestimmt letzteres. Oder? So kommt man wenigstes nicht in Versuchung, länger zu bleiben als zur Löschung des schlimmsten Durstes.
Weiter geht es durch ein Gebiet, dem der Mensch das Gepräge gegeben hat. Wo einst Felsen prangten sind tiefe Löcher entstanden. Die Steine sind weg und kommen nicht zurück. Dennoch ist die Natur dabei, sich alles wieder zu holen. Und wenn nicht bald etwas getan wird, so ereilt das einst mit viel Mühe und Engagement erschaffene Freiluftmuseum zu den vielen Steinbrüchen eben dieses Schicksal. Aber beeindruckend ist das alles schon. Mitten drin der Totenstein. Den abzureißen und zu Schotter zu verarbeiten hatten die Menschen wahrscheinlich doch ein wenig Angst. Der Aberglaube hat da sein Gutes.
Das tollste Steinchen ist der Schoorstein. Der sieht wie eine Gruppe von riesigen Pilzen aus, wie im Märchen. Ich kann mich gar nicht von diesem Flecken lösen. Man könnte sogar unter den steinernen Hüten boofen. (Anm. d. Verf.: Im Elbsandsteingebirge verbreitete Übernachtung unter Felsüberhängen) Ringsum aufgelassene Steinbrüche. Der Schoorstein ist zum Glück verschont geblieben.
Das letzte Stück des Weges führt nach Nieder Rengersdorf. Ich bin froh, dass ich eine gute Karte habe und muss sogar manchmal die Hilfe des GPS nutzen, sicher mehr aus Bequemlichkeit, um nicht suchen zu müssen, denn die Wege sind sehr schlecht ausgeschildert und markiert. Über Felder und durch das Oberdorf geht es nach Nieder Rengersdorf. Die Autobahn führt quer durch den Ort. Die Einwohner werden sich damals sehr gefreut haben, als diese eröffnet wurde. Endlich ist diese einschläfernde Ruhe vorbei und die Luft riecht nicht mehr nur nach Landwirtschaft.
Von dem Ort hatte ich nie vorher etwas gehört, doch das elektronische Helferlein, auch Hosentaschenstasi genannt, zeigte an, dort kann ich mein müdes Haupt betten. Und den leeren Magen stopfen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Nach der Mahlzeit hätte ich fast die Dienste des vormaligen Gewerbes in dem Haus nutzen wollen- eine Apotheke. Riesige Portionen, Fleischberge. Aber wie heißt es so schön: Lieber den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt. Ohne einen Kräuter hinterher geht es nicht. Selbst schuld. Angesichts der Speisekarte hätte an der Tür auch ein Schild hängen können: „Vegetarier bitte draußen bleiben“. Eine schöne und auch lange Etappe mit vielen neuen Eindrücken ist zu ende. Gute Nacht.
Von Nieder-Rengersdorf nach Görlitz
Das heutige Etappenziel ist eine der hübschesten Städte, die ich kenne: Görlitz. Auf dem Weg dahin zeigt mir die Karte viele Schlösser. Was vielleicht daran liegt, dass Schlesien ein paar Jahrhunderte, bis Ende des Zweiten Weltkrieges, zu Preußen gehörte und es wahrscheinlich geradezu obligatorisch war für preußische Adlige und Neureiche, ein Schloss in Schlesien zu besitzen. Und weil im Hirschberger Tal alles schon voll war mit diesen Protzbauten gingen die Herren eben auch ins Schöpstal.
Das Nieder Rengersdorfer Schloss ist heute die Gemeindeverwaltung, die beiden in Ober Rengersdorf sind in Privathand und sehen von außen nicht besonders gut aus.
Der schönste Wegabschnitt der heutigen Pilgeretappe ist das Stück durch das Tal des Weißen Schöps bis nach Kunnersdorf. Dicke alte Bäume, schöne Wiesen voller Glockenblumen, Wiesenwitwenblumen und Margariten erfreuen das Auge. Zwei Reiterinnen zwingen den Fußgänger ins Gebüsch. Und verheddern sich dann im Geäst, da der Weg schmal ist. So bin ich dann ausreichend revanchiert.
Kunnersdorf hat ein Gerichtskretscham und man merkt, wir kommen ins Landskron- Reich. Nicht die schlechteste Brauerei. Das Bierchen tut gut bei der herrschenden Wärme. Natürlich hat auch Kunnersdorf zwei Schlösser. Beide sind saniert und befinden sich im Privat- und Firmenbesitz. Geschichte, in dem Fall die jüngste, spielt auch beim nächsten Wegpunkt eine Rolle: der Kapellenberg. Zwei Mal standen sich da Armeen gegenüber, zwei Mal kam es nicht zur Schlacht, die Kunnersdorfer hatten Glück. Das erste Mal 1813, als napoleonische Truppen den Berg besetzt hielten, auf der anderen Seite die Verbündeten gegen den Franzosen. Dann 1945, die Gegend war zum Kampfgebiet erklärt worden und die Dorfbewohner mussten umfangreiche Schützengräben ausheben. Doch es kam in der Gegend zu keinen kriegerischen Handlungen. Die Gräben sind noch heute zu sehen und erinnern an diesen Irrsinn, ebenso ein Denkmal. Von dem Hügel bieten sich sehr schöne Blicke Richtung Landeskrone, Zittauer Gebirge und ganz hinten das Isergebirge.
Der nächste Ort ist Ebersbach. Zur Abwechslung mal ein Wasserschloss. Drin die Gemeindeverwaltung. Da kann ein Wassergraben ringsum nicht schaden, wenn die Bürger mal wieder Wut haben… Das nächste Schloss wäre gleich im Nachbardorf, Girbisgdorf, aber ich biege nach Südosten ab, Richtung Görlitz. Da geht der Pilger wieder auf der Via Regia. Was auch Straße und Asphalt bedeutet. Was haben die sich nur dabei gedacht. Das Pilgern soll doch auch Freude machen, ein wenig Genuss sein, nicht nur Askese mit auf harten Belag wund gelaufenen Füßen.
Am Wegesrand Büsche, die vollkommen kahl sind und komplett mit Gespinst eingewebt. Die Raupen einer Falterart haben ganze Arbeit geleistet, es sieht regelrecht gespenstig aus. Richtig unangenehm wird es, je weiter es Richtung Görlitz geht. Entlang einer Schnellstraße, dann in eine Art Gewerbegebiet. Dazu hat kräftiger Regen eingesetzt. Den braucht die Natur dringend. Der Fußgänger nicht ganz so. Ein kleiner Schwenk nach links und ich wäre schnell an der Straßenbahn. Aber ich habe mir gesagt, nein, alles wird gelaufen. Komme, was da wolle. Es kommt das Krankenhaus. Schnell vorbei, da möchte man nun wirklich nicht hin.
Gleich darauf erblickt der Pilger den Ort, der gemeinsam mit der Peterskirche Görlitz zur Via Sacra Station macht. Das Heilige Grab und die Heilig Kreuz Kapelle. Bei diesem Wetter haben diese so interessanten Bauten ihren Charme eingebüßt. Bei der Nässe geht es doch mehr darum, schnell die Unterkunft zu erreichen und sich trocken zu legen. Görlitz bietet, bis auf absoluten Luxus, eine breite Palette an Unterkünften. Ich beziehe eine ganz einfache Pension, dem Pilger angemessen. Noch ein Gang durch die Stadt, die eine der schönsten ist, die ich kenne, zumindest was unseren mitteleuropäischen Kulturkreis anbelangt. Die beeindruckende Peterskirche, der Kaisertrutz, die pittoresken Marktplätze und und und. Wenn ich nicht schon oft hier gewesen wäre, so bliebe ich paar Tage länger. Zur Landskronbrauerei muss ich nicht mehr gehen, der Ausschank schließt um 18 Uhr. Warum? […]
Abends treffe ich einen Görlitzer Bekannten. So ein richtiger Schwatz, der tut gut, wenn es den ganzen Tag kaum Gelegenheit zum Austausch mit anderen Menschen gibt. Auf den Wegen, außer bei touristischen Höhepunkten, trifft man kaum andere Wanderer oder Pilger. Morgen geht es nach Hagenwerder. Weil ich dort keine Unterkunft vorab buchen konnte, da alles besetzt oder wegen der Seuche geschlossen oder zu teuer war, bleibe ich zwei Nächte in Görlitz. Auch schön, mal ohne Gepäck zu laufen.
Von Görlitz nach Hagenwerder
Die richtigen Pilger, die ernsthaften, die stehen bestimmt schon mit der Sonne auf. Ich dagegen schlafe, zumindest an diesem Tag, bis mich die schon hochstehende Sonne in der Nase kitzelt. Heute geht es in eine zum Teil absonderliche Gegend. Renaturierte Tagebaurestflächen. Weil ich ein wenig selber bestimmen darf, wie ich die Route lege, stehen ein paar interessante Punkte auf der Agenda. Ich könnte auch auf dem Zittauer Jakobsweg, der von Görlitz nach Prag führt, in zwei Tagen bis Zittau gehen. Doch die Strecke teilt sich komplett mit dem Oder Neiße Radweg die Trasse. Also durchgehend Asphalt und darauf irre Rentnerelektroradler und noch dazu normale Biker. Und Inlineskater. Und wer weiß was noch. Da wird es lästig. Da gehe ich anders.
Der Weg durch Görlitz ist gar nicht so unangenehm. Zumindest der durch die Altstadt. Und danach kann der Fußgänger schon ins Neißetal abbiegen und in kühler schattiger Natur wandeln. Und am Wege steht ein Brauhaus. Wie hat man früher so schön gesungen? „Wo früher stand ne Kirche steht heut ne Brauerei.“ Eine Sacrale des Bieres sozusagen. Leider nicht Teil der Via Sacra. Aber vielleicht entsteht ja mal ein Bierpfad durch die Lausitz? In Tschechien wird der Kneipenbesuch als so etwas wie ein Gottesdienst angesehen. Der Tresen ist der Altar, der Wirt der Hirte, der seine blauen Schäfchen hütet, das Bier der Weg zur Transzendenz. Also werde ich Gambrinus, dem Gott des Bieres, in der Landskron - Brauerei huldigen. So schön fängt der Tag an.
Der weitere Weg durch die Stadt ist auch nicht schlecht, zumal ein Gutteil in einem netten Tal verläuft, dem Feldmühlengraben. Stattliche Bäume beschatten den Pfad. Wieder auf der Straße schaue ich der Straßenbahn, die an den Fuß der Landeskrone fährt, nicht sehnsüchtig nach. Denn der Aufstieg ist schon in Sichtweite und der Regen hat aufgehört. Umso höher der Wanderer oder Pilger kommt, umso schöner wird der Wald. Oben angekommen bietet der Turm einen fast Rundumblick, Görlitz liegt zu Füßen, in der anderen Richtung die Zittauer Berge. Die Kneipe auf dem Gipfel hat zu, „Heute Ruhetag“ lässt sich entziffern. Seis drum. Im Zickzack führt der Weg wieder hinunter, ein schnurgerader Betonweg in den nächsten Ort. Frequentiert von ein paar Radfahrern und Hundiausführern.
In Pfaffendorf wachsen auf einer Wiese die herrlichsten Hexenröhrlinge, wie gemalt, da blutet mir das Herz, die stehen lassen zu müssen. Das hätte eine Mahlzeit gegeben! Weiter. Schöne Blicke immer wieder zu der markanten Landeskrone. Dann eine wunderbare Überraschung. Fast will ich es nicht aufschreiben, denn Bekanntheit hat solchen Lokalitäten meistens nicht gut getan. Ein großer Fleck voller Türkenbundlilien! Die sind allein schon sehr selten und dann noch in solch einem großen Vorkommen. Ich bin begeistert. So eine reiche Ansammlung habe ich noch nicht einmal in den Böhmischen Bergen gesehen. Das Dörfchen Jauernick- Buschbach, ein religiöses Zentrum in der Region, schmiegt sich hübsch an den gleichnamigen Berg. Berggasthof nennt sich die Kneipe. Jedoch: „Heute Ruhetag“. Es wird einem wirklich schwer gemacht, das ungesunde Leben.
Hinter dem Ortsausgang lädt eine Bank mit Blick zum Rasten ein. Mit Stiefmütterchen bepflanzte Gummistiefel lassen einen gewissen Humor erahnen. Danach wird es ein wenig schwierig mit der Orientierung. Es gibt so gut wie keine Wegweiser, keinerlei Markierung. Das wird sicherlich daran liegen, dass die ganze Landschaft noch recht neu ist. Bis 1997 war das ein riesiger Braunkohletagebau. Darauf kam die Renaturierung. In den gut zwanzig Jahren kann natürlich noch nicht allzu viel wachsen, auch keine richtige touristische Wegestruktur. Es lohnt sich dennoch, sich durch das Gebiet zu manövrieren, weil seit 2008 auf der Neuberzdorfer Höhe ein 26 Meter hoher Turm steht. Sehr gut versteckt, er ist schlecht zu sehen, erst wenn man fast davor steht, zeigt er sich.
Der Blick ist überwältigend! Bis ins Riesengebirge lässt sich schauen. Egal was noch kommt, diese Etappe hat sich schon gelohnt. Und es kommt nicht mehr viel. Auf Schotterpisten hinab zum Berzdorfer See. Die ganze Gegend wirkt eigenartig, unfertig, kahl und öd. Ein riesiger Parkplatz macht es nicht schöner. Am Strand des Sees sonnen sich ein paar Leute, ich höre auch einige tschechische und polnische Stimmen. Der Weg entlang des Sees ist mehr für Radfahrer gedacht, als Fußlatscher, als Wanderer, ist man ein wenig fehl am Platze. Ebenso im Restaurant „Gut am See“, die Kleiderordnung ist nicht ganz stimmig. Und es kann passieren, dass ich die Krawatten der Anzuguniformträger, Herrn der Ringe und Sternfahrer mit der Serviette verwechsele. Nu, es gibt ja noch die Bahnhofskneipe. Die ist fast erreicht.
Zuvor erinnert ein riesiger Tagebaubagger an die jüngste Vergangenheit. Gewaltig und auch beeindruckend, die Technik, mit der der Mensch ganze Landstriche verwüstet hat und weiterhin verwüstet. An der Bahnhofskneipe hängt natürlich ein Schild: „Heute Ruhetag“. Ok, es ist nicht mein Tag in dieser Hinsicht. Und daher erweist es sich als gar nicht so ungünstig, dass ich hier kein (günstiges) Quartier gefunden habe und nach Görlitz zurück muss. Da hat bestimmt noch irgendwo ein Dönermann einen Spieß am Feuer. Der Zug lässt nicht lange auf sich warten.
Von Hagenwerder nach Kloster St. Marienthal
Die Etappe beginnt da, wo die gestrige endete, klar, in Hagenwerder. Der Zug aus Görlitz bringt mich hin. Auch in der Stadt Görlitz hatten viele Einkehren Ruhetag, aber es gab zum Glück auch einige, die offen hatten. Der Weg nach Polen, nach Zgorzelec, was mich sehr gelockt hätte, war coronabedingt versperrt. Nun nach Marienthal. Und um es gleich zu sagen, es lohnt sich nicht wirklich, aus dem Zug auszusteigen vor Ostritz, dem Heimatort des Klosters St. Marienthal. Es sei denn, man mag Asphalt, Beton und Ruinen oder Agrarwüsten. Möchte jemand wissen, was im Allgemeinen unter einem toten Ort zu verstehen ist, der ist in Hagenwerder ziemlich richtig. Wie traurige Augen sehen einen die ganzen grauen, trüben Fenster an, hinter denen schon lange kein Leben mehr ist. Heraus aus der Stadt ist der Weg gesäumt von eingewachsenen Garagenkomplexen und Industrieruinen. Fans von „Lost Places“, die zu besuchen und zu fotografieren eine Modeerscheinung ist, kämen voll auf ihre Kosten. Es ist hoher Frühling, alles ist grün, mancherlei Blumen blühen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es hier Ende November aussieht. In ein paar Jahren wird alles überwachsen sein, die Archäologen der Zukunft werden in einigen Jahrhunderten ihre Freude haben. Auf der anderen Neißeseite, auf der polnischen, versteckt sich ein Kleinod: das Stift Joachimstein. Es soll das schönste Schloss der Oberlausitz gewesen sein. Ich hätte mir gerne angeschaut, in welchem Zustand es nun ist. Aber wie gesagt, die Grenze ist zu…
Ich pilgere entlang des Oder- Neiße Radweges. Mit dem Fahrrad ist das bestimmt eine ganz angenehme Geschichte. Per Pedes ist es ein wenig wie ein moderner Spießrutenlauf, wobei die Spießruten durch Fahrräder ersetzt sind. Rasant elektroradelnde Rentner, bei denen man nicht immer den Eindruck hat, dass sie ihre Räder beherrschen, überladene Tourenradler, der Weg ist sehr gut frequentiert. Ständig klingelt es und ich muss zur Seite. Auffällig viele Zauneidechsen sind zu sehen, sie haben diese unromantischen Ruinen für sich entdeckt, immerhin ein positives Zeichen.
In Leuba verlasse ich endlich die Radtrasse. Zuvor passiert man den Kellbrunnen, eine hübsch eingefasste Quelle. In der Beschreibung steht, dass an der Nordseite ein Biergarten für die Durchreisenden war. Ich suche ihn vergeblich… Im Ort hat alles zu bzw. gibt es nichts, was überhaupt aufhaben könnte. Der nett aussehende Imbiss am Radweg war ebenfalls geschlossen. Nun führt der Weg entlang an endlosen Feldern, schattenfrei. Erst gerade nach Westen, dann schnurgerade nach Süden. Weizen, Raps, Raps, Weizen, Mais- bis weit weit hinter den Horizont. An den schmalen Feldrändern ab und an ein paar Blümchen, Ackerwachtelweizen, Kornblumen. Auch ein paar Champignons. Das sind für mich mit die fürchterlichsten Wege: Beton und endlos geradeaus. Da zieht es sich, scheinbar geht es null voran, fast ist es wie mit dem Scheinriesen, den Jim Knopf und Lucas der Lokomotivführer in der Wüste treffen und der je näher er kommt immer weiter entfernt wirkt. So werden drei Kilometer zum halben Leben. Entsprechend sind dann die Gedanken. Die eigne Vita läuft vor einem ab wie ein Film. Vielleicht ist das ein Hintersinn der Pilgerei? Mangels aller Ablenkung am Weg wird man gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, eine Nabelschau aus dem Nichts sozusagen. Kann schon sein. Es kommen doch interessante Gedanken und Erinnerungen und ebenso Fragen.
Irgendwann ist es dennoch geschafft, die Wälzgedanken nehmen Reißaus und der landschaftliche Höhepunkt des Tages rückt heran. Der Knorrberg, ein recht großer Basaltaufschluss. Freigelegt durch den Steinabbau, nun schon lange aufgelassen. Beeindruckende Säulen, jedoch ist alles schon recht zugewachsen. Die Mühe des Aufstieges auf den Hügel wird durch einen hübschen Blick in Richtung Süden belohnt. Danach bin ich auf der Zielgeraden der Etappe. Es wird noch ganz nett, ein schattiger Wald, Buschland. Sogar eine Orchidee findet sich. Sehr sehr selten. Und Feldrittersporn, auch selten.
Dann öffnet sich mit einem Mal der Blick auf das Kloster. Über den Weinberg, der tatsächlich mit Reben bestockt ist, schaut der Pilger auf die imposante Anlage. Da bleibe ich gerne eine Weile stehen, die Sonne beleuchtet das Ensemble aufs Vorteilhafteste. Ich habe das Glück, im eigentlichen Kloster zu übernachten. In einer der Zellen, die sozusagen nicht mehr gebraucht werden, da nur noch wenige Nonnen im Kloster leben. Leider sind die Zimmer nicht sehr schön eingerichtet, dennoch ist es eine wirklich besondere Atmosphäre. Irgendwie ist auch die Luft anders, man bewegt sich automatisch leiser, bedächtiger. Ein schönes Erlebnis. Prima auch, dass die Klosterschenke Besucher empfängt. Ansonsten wäre es schwierig, gäbe es nur Flüssigbrot. Das Klosterbier wird leider nicht mehr hier gekocht, sondern in Eibau, doch schön, dass welches für die Gäste bereit steht. So findet eine doch sehr durchwachsene Etappe einen versöhnlichen Abschluss.
Vom Kloster St. Marienthal nach Zittau
Leise rauschte die Neiße, die Glocke rief die Nonnen zu den Laudes, ich schlief wunderbar. Das Frühstück im Kloster ist ein wenig spartanisch. Ganz selbstverständlich sausen und schlurfen, je nach Alter, die Nonnen herum. Die Klosterkirche, zwar äußerlich wie das Kloster barocker Erscheinung, bietet mit ihrer im Nazarener Stil gestalteten Inneneinrichtung einen angenehmen Kontrast zu diesem allgegenwärtigen absolutistischen Baustil, der besonders in den Kirchen sehr oft recht cremig und überbombastisch daherkommt. Das kann man mögen, muss aber nicht.
Heute geht es nach Zittau. Ein erster interessanter Punkt, zumindest für Mineralogen und Klunkerliebhaber, findet sich gleich hinter dem Kloster im Neißetal, die Karfunkelsteinhöhle. Ein romantischer Name für einen Quarz-Gesteinsgang im umgebenden Rumburger Granit, der neben Quarzen einige der meist roten Edel- und Halbedelsteine enthielt. Das Vorkommen lockte über Jahrhunderte die Sammler. Heute soll kaum noch etwas zu finden sein. Ich verlasse das Tal, da schon so früh der Radfahrer schiere Zahl mich an den Rand der Verzweiflung befördert. (Bin ich, oft und gern, mit dem Rad unterwegs, dann bringen mich die Fußgänger zur Raserei.) Ich nehme den Weg durch den schönen Klosterwald. Der gehört zwar leider nicht mehr dem Kloster, man musste um die Pleite abzuwenden, verkaufen, doch die neuen Besitzer konnten in der kurzen Zeit, die sie den Wald besitzen, noch nicht so viel Schaden anrichten. Ein sehr vitaler Mischwald, die Nonnen sind immer pfleglich mit ihm umgegangen. Hoffen wir, dass es so bleibt, obwohl es an manchen Stellen schon nicht mehr so aussieht.
Ein Denkmal erinnert an ein ausgelöschtes Dorf, Siegfriedsdorf, welches am 11. Mai 1427 dem religiös bedingten Machtwahn der Hussiten zum Opfer fiel. Ist Religion wirklich so, dass man sich wegen ihr die Köpfe einschlagen muss, oder sind das die Menschen an sich? Es macht es scheinbar leichter, im Namen eines Gottes den Nachbarn abzutun.
Im Wald fand ich eine Menge herrlichster Walderdbeeren, eine Aroma- und Vitaminbombe. Über den Wolfsgraben gelangte ich wieder ins Neißetal, an der Saupantsche komme ich heraus. Was für eine tolle Bezeichnung. Eine Erklärung fand ich nicht, so kann sich die Phantasie eine fidele Schweinebande vorstellen, die sich dort zum Schlammbad traf und ihre Ratssitzungen abhielt. Dann erscheint Hirschfelde. Hier könnte derselbe Text stehen wie der zur letzten Etappe, zu Hagenwerder. Eine Ansammlung von Industrieruinen, verfallender Häuser und verlassener Gärten. Die Einwohnerzahl hat sich seit der Wende halbiert. Und alles wird überschattet von dem riesigen dreckschleudernden Kraftwerk in Turow. Verständlich, wenn man hier nicht mehr wohnen möchte. Obwohl es ein paar wirklich schöne, manchmal gepflegte, Umgebindehäuser hier gibt und eine Handvoll Fachwerkhäuser mit Lauben, wie ich sonst noch nirgends gesehen habe.
In den noch aktiven Kohleregionen weiter nordwestlich steht der Ausstieg aus der Kohleverstromung bevor. Der absolut richtige Schritt. Doch die hohe Politik sollte sich diese Gegend hier noch einmal genau ansehen, um ähnliche Szenarien wie diese halbtote Region zu vermeiden. Milliarden Euro allein genügen nicht, wichtiger ist ein wenig Gehirnschmalz einzusetzen. Doch daran gebricht es meist. Die Infrastruktur in dem traurigen Ort scheint sich auf eine gut laufende Apotheke zu beschränken. Wie hoch wird der Altersdurchschnitt hier sein? Einen einzigen größeren Betrieb gibt es noch, die fit- Werke. Ich verlasse den Schauplatz des Nichts, ziehe weiter südlich. Vorbei an der einzigen Kneipe, dem Sportcasino. Natürlich gerade geschlossen. Zwischen Hirschfelde und Drausendorf erinnern verfallene Gebäude und ein paar Gedenktafeln an die hier gewesene Außenstelle eines Nazi-Konzentrationslagers. Traurige und beschämende Geschichte.
Eine originelle Bachquerung: paar große Steine im Flussbett. Hunderte Meter zuvor per Schild angekündigt samt Umwegempfehlung über die Bundesstraße, wahrscheinlich lauert Gefahr für Leib und Leben. Hübsch und harmlos, schafft man sogar mit Krücken. Der wirklich schönste Teil des Weges ist abgesperrt, der Pilger wird über den Radweg an der Bundesstraße umgeleitet. Allerdings nur, wenn man die Verbotsschilder beachtet. Ich lasse Schild und Verbot links liegen. Wir hätten jetzt noch die DDR, wenn wir immer dem gefolgt wären, was auf den Verbotsschildern stand. Sogar ein Bauzaun ist aufgestellt, damit der Wanderer nicht durch diese wunderbare Jahrhunderte alte Eichenallee schreitet. Wir leben schon in einem recht wunderlichen Land. Ich glaube „Verkehrssicherungspflicht“ heißt das Fachwort, mit dem hier alles geregelt wird, deutscher geht es nicht.
Nur ein paar hundert Meter nach links, von mir ausgesehen, befindet sich das zweihundert Meter tiefe, riesige Loch des polnischen Braunkohletagebaus. Übel. Aber in wenigen Jahrzehnten werden Deutsche und Polen da baden gehen. Die Polen wissen das noch nicht, aber so wird es kommen. Der weitere Weg nach Zittau hinein ist fast nicht der Rede wert, man geht ihn eben. Erst entlang des Gewerbegebietes, dann durch die Stadt. Wie überall. Einzig das Stück durch den Weinaupark mit seinen alten Bäumen ist schön. Die historische Innenstadt ist jedenfalls einen Besuch wert, man sieht der Stadt ihre ehemalige Bedeutung, ihren vergangenen Reichtum an. Sogar geöffnete Restaurants sind vorhanden. Noch vor Kurzem hätte ich bei einem Freund übernachten können, doch der hat hier die Segel gestrichen. Zu abgelegen, zu ostprovinziell war es ihm hier. Ich will es ihm mal glauben und genieße den Abend nach einer durchwachsenen Pilgeretappe trotzdem …
Von Zittau über Oybin nach Jonsdorf
Zittau ist Via Sacra Station. Die Fastentücher, die berühmten. Diese Tücher wurden in der vorösterlichen Fastenzeit aufgehangen. Fasten hieß vor allem Verzicht auf Fleisch. Dafür gab es besonders starkes Bier. Und da Fisch erlaubt war, erklärten pfiffige Mönche alles, was irgendwie mit Wasser zu tun hatte, also Enten, Gänse, Bieber, bestimmt auch Wildschweine, die mal baden gingen etc. zu Fisch und es war genehmigt. So läuft das mit dem Fasten geschmeidig. Es ist schon ein wenig erstaunlich, dass die Tücher, die das Allerheiligste den Augen entziehen sollten, also wie es in der Beschreibung zu den heiligen Textilien steht „eucharistische Abstinenz“ geübt wurde, selber ein Augenschmaus sind, schöner vielleicht als der verhangene Altar. Wie gesagt, man wusste sich das Fasten meist angenehm einzurichten. Nur die Eiferer haben sich kasteit. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Und wie das so geht, was dem einen die Eule, ist dem andern seine Nachtigall und sowjetische Soldaten nutzen 1945 das große Tuch kurzerhand als Dichtmaterial für die Banja. Heute ist es museal-touristisch, […]. Der Mensch…
Auf diese Etappe habe ich mich sehr gefreut, führt sie doch in ein von mir enorm gemochtes Gebiet, das Zittauer Gebirge. Wilde Sandsteine, vulkanische Verrücktheiten. Doch der Weg dahin ist lang, wenn man in der Zittauer Innenstadt startet. Decken wir das Tuch des Schweigens darüber. Bemerkenswert sind eine Allee riesiger Pappeln sowie die Napoleonslinde. Ob der kleine Feldherr in einer natürlichen Regung an ihr geschaut hat, wo hinter dem Baum ist?
Mit dem Wald beginnt es schön zu werden, die ersten Felsen türmen sich. Die Wege winden sich hinauf, über Stock und Stein und Stufen, erste Aussichten wie am „Böhmischen Turm“ laden ein. Die Erosion hat aus dem krümeligen Stein bizarre Formen herausgearbeitet, die mit mancherlei Ähnlichkeiten haben. Etwa am Töpferberg die Brütende Henne oder die Schildkröte und viele andere mehr. Wunderhübsch. Schön auch, dass der Imbiss aufhat. Zum Glück ist gerade keine Fastenzeit, also normales Bier und Bockwurst dazu, die man nicht als Maultäschle tarnen muss. Kleine Felsengasse, Große Felsengasse, der irre Scharfenstein, die vielen unterschiedlichen Felsgebilde, toll, es ist ein einziger Sinnenrausch, ein Wander- und Pilgergenuss. Immer wieder schönste Ausblicke nach Oybin, Richtung Lausche, Richtung Böhmen. Der Weg führt zu einem weiteren Höhepunkt, den Kelchsteinen. Da hat in grauer Vorzeit jemand zwei Riesen bis zum Hals eingegraben, wer weiß, was es für Ärger gab. Und da harren sie heute noch wehrlos und müssen sich gefallen lassen, daß Kletterer auf ihnen rumhampeln.
Durch die Rosenfelsen geht es gen Oybin. Der Kiosk am Parkplatz führt böhmisches Bier, allerdings zu nichttschechischen Preisen. Das ist immer das Wunder der Geldvermehrung. Wie sich auf den paar Kilometern von etwa der Brauerei Ceska Kamenice nach Dresden der Preis des Gerstensaftes vervierfacht. Tja. Schmeckt trotzdem. Das Oybiner Kloster ist ebenfalls Via Sacra Station. Dafür sollte der Pilgerer sich Zeit mitbringen, nicht nur die Klosterruine und die Reste der Burg, sondern den ganzen Fels sich anzusehen. Es ist unglaublich, wie erhaben so eine Kirche, ihres Daches und allen Schmuckes beraubt, wirken kann. Hier gehen Natur und Kultur respektive Religion eine irgendwie harmonische Beziehung ein. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verbummele, bis zum Ziel ist es noch ein kleines Stück. Durch den Hausgrund, über den Poetenweg, den Thomasweg und den Gerölleweg gelange ich nach Jonsdorf. Die Schmalspurbahn fährt mit Gezisch, Qualm und Gebimmel gerade gen Zittau los. Sehr schön.
Ich habe eine einfache Unterkunft gesucht, muss durchs ganze Dorf. Leider hat die Pension keine Gaststätte mehr. Nach der doch anspruchsvollen Etappe habe ich keine Lust, ewig zu einer Einkehr zu laufen. Es gibt ihrer vier in Jonsdorf. Eine passt mir wegen des angebotenen Bieres so wie so nicht, bleiben zwei in relativer Nähe. Die erste löst nach der Lektüre der Speisekarte, vor allem der Spalte rechts mit den Zahlen, den Rückzug aus. In die nächste gehe ich dann, todesmutig, komme, was da solle. Ich bekomme die Quittung. Ein Industriebier, dessen Preis mich zwingt, jeden Schluck mühsam einzeln zu genießen. Eine Forelle, die noch lange nicht konfirmiert war, so klein, dafür groß bei der Gewinnspanne. Die eine Kellnerin legt absolut keinen Wert auf Trinkgeld. Die andere, aus dem Nachbarland Böhmen, rettet die Ehre des Personals. Ich bin da doch ein wenig frustriert. Ich denke, wir sind in einer der abgelegensten und strukturschwächsten Regionen Deutschlands, aber Preise wie in München.
Ich komme mit Gästen aus den gebrauchten Bundesländern ins Gespräch, die empfinden das ebenso, sind überrascht, die heimischen Preise sogar übertroffen zu sehen. Was mich dann fast wütend macht ist, dass im Hof, auf den Privatparkplätzen, nur SUVs stehen, Stückpreis bestimmt sechsstellig. Es erscheint mir ein wenig unverschämt. Na, Geld hat man nicht vom Ausgeben bzw. davon, dass es die anderen ausgeben. Und so lange sich Leute finden, die auf den Leim gehen, gibt der Erfolg recht. Es gibt, zumindest hier, keine echte Alternative. Nicht mal einen Laden. Das ist etwas, was mir bei den bisher elf Etappen mehrfach unangenehm auffiel. Das Preis- Leistungsverhältnis stimmt nicht. Mein Gemaule geht mir selber fast bissel auf den Nerv, aber es muss doch mal gesagt werden. In der Pension gibt es zum Glück noch einen gefüllten Kühlschrank. In Gedanken an die wunderschönen Felsen gehe ich zur Ruhe.
Von Jonsdorf nach Großschönau
Der Pilgerwanderer muss sich immer entscheiden. Das ist bei dieser Etappe besonders schwer, denn es locken einfach zu viele Felsen, Berge und Aussichten. Ginge es nur darum, so schnell wie möglich zum nächsten Etappenziel, nach Grussschinne, wie es eheemsch genannt wird, zu laufen, so wäre man in nicht mal zwei Stunden dort. Doch es soll eine schöne Pilgeretappe werden durch diese fantastischen Felsen, die Dome der Natur und über die Lausche, den höchsten Berg der Lausitz. Die Kunst besteht bekanntlich im Weglassen, aber so, dass es keiner merkt, nichts fehlt und dennoch wunderbar ist. Also die Pflöcke eingeschlagen: Carolafels, Schwarzes Loch, Jonsdorfer Orgeln, Rabenstein, Nonnenfels und Lausche. Das Wegzulassende, Unbesuchte, daran denke ich nicht mehr. Alea iacta est. Los geht’s. Ich verlasse die angenehme, im knarrenden, ächzenden Umgebindehaus befindliche Pension nach reichlichem Frühstück. Eine Weile durch den Ort, der oft ganz hübsch anzusehen ist mit den geduckten Fachwerk- und Umgebindehäusern. Hinauf zum Carolafelsen, hindurch durch die Bärwand, immer steigend führt der steile schöne Weg.
Bären brummen hier schon lange nicht mehr. Ich stelle mir das Theater vor, wenn ein solcher Meister Petz mal wieder hier auftauchte. Die Landräte, Jäger, Berufenen usw. liefen zu Hochform auf. Was für ein Theater im Felstheater. Alle anderen Probleme wären vergessen, endlich wieder ein echtes Bewährungsfeld. Mr. Paddington hätte keine Chance. Nun ja. Oben angekommen legt sich das Kopfkino, die Augen öffnen sich. Es bietet sich der erste tolle Blick in dieses gewaltige Felsenrund. Und zur Lausche, die mit ihren 793 Metern die Königin ist. Wirklich wunderbar, faszinierend. Körper und Geist atmen frei, schwebend fast. Weiter geht es zum Schwarzen Loch. Ein ehemaliger Mühlsteinbruch. In ameisenartiger Arbeit ist es den Menschen gelungen, aus einem ragenden Felsen ein tiefes Loch zu schaffen. Überall sind die Spuren hominider Rackerei zu sehen. Und fast von allen Ausblicken ist die Dreckwolke des Braunkohlekraftwerkes Turow in Polen zu sehen, das Loch dort ist noch ungleich größer. Zum Glück sind wir die „Krone der Schöpfung“, so dass uns keiner zur Verantwortung ziehen wird für die Verwüstungen, die wir, auch notgedrungen, anrichten. Gäbe es etwas über uns, so würden wir ob der gewaltigen Schäden, die wir anstellen, verfolgt wie Wildschweine im Maisfeld. Glück gehabt. Solche Gedanken kommen beim Pilgern, erstaunlich.
Die Besonderheiten reihen sich. Die Jonsdorfer Orgeln. Ich kenne nur zwei Stellen in der ganzen Region, wo solch gefritteter Sandstein vorkommt. Hier und am Duty kamen, dem Hohlen Stein bei Cvikov, Böhmisch Zwickau. Erstaunlich, dass sich der Sandstein in gleichen Bedingungen verhält wie Basalt und zu solchen Säulen kristallisiert. Nun entlang der tschechischen Grenze. Das weckt die Vorfreude noch mehr. Denn der Übergang ins Nachbarland ist wieder auf. Doch dazu später an der passenden Stelle mehr. Ich biege an den magischen Rabensteinen wieder nach rechts, um zu den phantastischen Nonnenfelsen zu gelangen. An der ferrata, dem Klettersteig, hängen Kletterer mit Helm und Gurt in Trauben, so dass ich darauf verzichte einen Teil davon zu gehen. Sicher, etwas leichtsinnig wäre es, ohne Sicherung, da wird man immer ein wenig schräg angesehen. Trinke ich lieber ein Bier in der idyllisch gelegenen Kneipe. Genieße den Blick.
Vom Nonnenstein herunter, gelangt der Pilger auf einer Art Wanderschnellweg, der in manch Weltgegend als Fernstraße durchginge, nach Waltersdorf. Auch hier wieder die Entscheidung, den steilen Grenzweg oder den bequemen Aufstieg? Ach, heute bequem und ich reihe mich ein in die Aufsteigenden. Immer schön rechts gehen, wegen denen, die herunterkommen. Na, bissel übertrieben habe ich, es geht mit den Massen, ist angenehm. Oben auf dem Gipfel ist der Turmbau im Gange. Zweierlei ist schon deutlich. Erstens: der Blick vom Turm, so er nicht zu niedrig konzipiert ist (ich habe gelernt: nichts ist auszuschließen), wird herrlich. Ein Blick auf mein ganzes Reich, wie meine Partnerin sagt. Mein Wanderreich, welches von der Lausche aus zu Füßen liegt: Isergebirge, Riesengebirge, Böhmisches Mittelgebirge, Böhmische Paradies, Königshainer Berge und die ganze Lausitz sowieso. Toll. Zweitens: der entstehende Turm verletzt jeden Anspruch an Ästhetik. Ein eckiges Stahlungetüm. Aber über Geschmack lässt sich nicht streiten. Andere empfinden sicher anders. Noch ist er nicht fertig, der Blick daher noch begrenzt, dennoch wunderschön. Hier oben mischen sich, gar nicht coronakonform, die Nationen. Die mir vertraute tschechische Sprache mengt sich unter die sächsischen Laute.
Der weitere Weg wird wieder einsam, kaum einen trifft man mehr, sobald der Parkplatz außer Sichtweite ist. Unaufregend, immer fallend und gefällig schlängeln sich die Wege hinunter. Der Wald, wohl durch das doch recht hohe Lauschemassiv, welches die Wolken aufhält und ermuntert, ab und an ein paar Tröpfchen zu lassen, sieht noch ganz gut aus. Die Kneipe in Herrenwalde hat zu, macht nichts, ich habe andere Pläne. In Großschönau richte ich mich ganz schnell in der Pension ein, schaue nicht nach Einkehren. Übrigens die preiswerteste Unterkunft der ganzen Pilgerreise.
Vom Wirt habe ich positiven Bescheid erfahren für mein Vorhaben: es gibt einen Fahrradladen mit Mieträdern vor Ort. Und der Anruf da ergibt, ja, es gibt ein einfaches Rad zur Ausleihe. Ich möchte heute nach Böhmen. Die Grenze ist nach Monaten wieder auf. Ich kommentiere diese ganzen gesundheitspolitischen Manöver nicht, kann eh nichts machen. Ich laufe zehn Minuten, bekomme meinen Drahtesel und fliege entlang der Mandava dahin, sechs Kilometer, bis in die Brauerei Kocour in Varnsdorf. Laufen wollte ich nach der langen Pilgeretappe nicht mehr, das wären zwölf Kilometer noch mal. Herrlich, zehner Bier und eine gute Sülze. Oh Labsal. Das alles zu gewohnten Preisen, also der Halbe Liter zwischen 1,10 Euro und 1,60 Euro. Zum Verständnis: ich arbeite als Wanderführer zumeist in Tschechien, die monatelange Böhmenabstinenz war nur schwer zu ertragen. Nun ist das überstanden. Ein kurzer Eintritt in ein kleines Paradies. Das kann nicht jeder verstehen, meine Schwärmerei, aber das ist mir völlig wurst. Zufrieden und langsamer radle ich nach ausgiebigem Genuss nach Grussschinne zurück. Keine beflissene Polizei, die meinen Zustand prüfen möchte, gut. Morgen geht es nach Herrenhut. Da bin ich neugierig drauf, die nächste Via Sacra Station.
Von Großschönau nach Herrnhut
Heute steht eine längere Etappe auf dem Plan. Nach Herrnhut sind es gut über 20 Kilometer. Einfaches, dennoch respektables Frühstück in der ebenso einfachen, aber angenehmen Unterkunft. Der Wirt und ich klagen uns gegenseitig ein wenig unser Coronaleid, beide gleichermaßen und dennoch verschieden betroffen von der Seuche. Er darf keine Touristen beherbergen, ich keine führen. Man sollte nicht darüber nachdenken, da kommt nur Ärger auf. Zum großen Glück habe ich diese wunderbare Aufgebe erhalten, die Via Sacra abzugehen. Leider neigt sich die Pilgertour dem Ende zu, es ist der vorletzte Streckenabschnitt. Ich werde es sehr genießen. Und wenn die Nachrichten, die durchsickern, so stimmen, dann wird in Kürze der Tourismus, wenn auch nicht uneingeschränkt, wieder möglich sein. Die Grenzen sind ja bereits wieder offen. Kann ich also mit meinen Gästen losziehen. Das ist schön! Doch heute ist heute und die Tour beginnt zuerst mit einer kurzen Radfahrt. Muss ich doch den geliehenen Drahtesel zurückgeben. Alles ist ganz geblieben, es gibt keine Beanstandung, wunderbar.
Empfohlen wurde mir, mal an der Kirche Halt zu machen. Das hätte ich auf der Via Sacra Pilgertour so wie so getan. Der ehemalige Kantor sei oft da, zeige die Kirche gern, gäbe ebenso Kostproben seines vorzüglichen Orgelspieles. Der Exkantor ist denn auch im Gotteshaus, die Musik dringt durch Fenster und Türen, wohlklingend. Leider hat er hinter sich abgeschlossen. Da möchte er wohl ungestört sein. Ich ziehe hinab zur Mandau. Es wird deutlich, Grussschinne verfügt über den größten Schatz hübschester Umgebindehäuser. Wirklich tolle Ensembles dieser Bauten sind zu betrachten.
Der Steig führt hinauf auf den Hutberg, vorbei an grünen bemoosten Felsen. Ein klasse Blick auf den Ort und von der Lausche bis zum Hochwald öffnet sich. Über blühende Fluren und durch eine junge Lindenallee führt der Weg in den Wald zu zwei bemerkenswerten Steinen. Dem Weißen Stein aus Quarzit und dem Schwarzen Stein aus Phonolit. Der Räuberhauptmann Karasek soll hier einige seiner Schätze vergraben haben. Ich stochere ein wenig im Laub, finde aber nichts als ein paar leere Flaschen und etwas Müll. Noch nicht mal Pfandflaschen… Ich umrunde den Forstenberg, immer wieder schöne Blicke auf den Jeschken und das Isergebirge. Plötzlich eine Sprungschanze. Gar nicht so winzig. Fällt mir spontan Jens Weißflog ein. Ob der hier war? Das sind die für mich langweiligsten Fernsehübertragungen gewesen: Skispringen. Respekt natürlich davor, diese irre steile Schanze runter zu fahren und dann noch zu springen. Käme mir nie in den Sinn. Aber es hat eben jeder seine Freuden. Ein Kneippbecken ist auch da, eine Frau dreht einsam ihre Barfußrunden im Wasser.
Eine Kneipe wäre mir jetzt lieber, es ist sehr warm, es entwickelt sich Durst. Es findet sich am Wege keine Möglichkeit. In Spitzkunnersdorf, was für ein lustiger Name, gibt es zwei Schänken. Die eine ist zu abseits, die andere bietet (nur noch) Mittagstisch, aber heute irgendwie nicht. Offen hat die Fleischerei, die ganz herrliche Erzeugnisse für Nichtvegetarier bereithält. Ein bisschen wie früher der Laden, die Zeit scheint ein wenig, wenn nicht stehen geblieben, so doch verlangsamt zu sein. Wunderbar. Wie ein Kind im Spielzeugladen. Ich suche mir was Schönes aus und setze mich damit in die Sonne.
Nächste Wegmarke ist der Spitzberg bei Oderwitz. Ein meist angenehmer Weg über Felder, Wiesen und durch den Wald. In einer Fichte ist ein Loch, neugierig schaut ein junger Buntspecht heraus. Wir grüßen uns höflich. Der Spitzstein, den sehe ich so oft und war noch nie oben. Und es lohnt sich, die Rundumsicht ist phänomenal, ganz toll, ich bin begeistert. Ganz und gar nicht begeistert bin ich von der Rechnung in der Baude. Es gibt dort Fürstenberg Bier, das ist aus dem Schwarzwald und erinnert mich an meine Zeit, die ich vor vielen vielen Jahren dort verbrachte. Also so teuer war das damals dort nicht… Es ist der Preisrekord auf dieser Pilgerreise. Daher lasse ich es bei einem bewenden und weil es immer noch heißer geworden ist, mache ich einen kurzen Abstecher zur Tankstelle in Oderwitz. Da gibt es auch was für Leute ohne Motor, gut gekühlt. Bemerkenswert in dem Motor-Zusammenhang, dass Oderwitz ein Ort der Mühlen ist, drei Wind- und zwei Wassermühlen sind erhalten. Ja, Pfarrers Kinder, Müllers Vieh… Früher waren die Müller nach der Herrschaft meist die wohlhabendsten Leute im Dorf. Davon ist nichts mehr zu sehen. Es ist ein teures Hobby geworden, die Mühlen zu erhalten.
Der „Endspurt“ der Etappe führt hügelan hügelab vorbei am Ruppersdorfer Wasserschloss hinauf nach Herrnhut. Auch dieser Ort erinnert mich an meine Zeit im Schwarzwald. Denn ich wohnte in Königsfeld, ebenso ein Fixpunkt der Brüdergemeine wie Herrnhut. In vielen Weltgegenden sind die Herrnhuter oder die Böhmischen Brüder, im Ausland als Moravian Church bekannt, ansässig. Auch am Tanganjikasee in Afrika begegneten wir uns, ich wohnte dort sogar in deren Gästehaus. Und die Sterne sind allgegenwärtig, wer kennt sie nicht. Selbst wenn fast keiner ihre Herkunft weiß. Unterkunft in der Gemeinde gab es nur im Gästehaus der Gemeine; schlicht und teuer. Erstaunlich in so einem bedeutenden Ort ist, dass es fast keine Einkehrmöglichkeiten gibt. Und da noch dazu Wochenanfang war, hatte das einzige Restaurant Ruhetag. Nun gut, die Herrnhuter sind eher dem Pietismus zugeneigt, so dass das leibliche Wohl zweitrangig zu sein scheint. Bei den Katholischen ist man da meist besser aufgehoben... Ich schaue mir noch ein wenig die Einrichtungen der Brüder an, von außen, alles ist verschlossen. Und dann, wie so oft in kleineren Orten, rettet der Dönermann den Hungrigen vorm vorzeitigen Tode. Eine lange schöne Etappe voller Erinnerungen. Morgen nach Löbau, wo sich der Kreis schließt.
Von Herrnhut nach Löbau
Die netten Angestellten des Gästehauses empfahlen sehr, doch einmal den Hutberg mit dem Friedhof und dem Altan zu besuchen. Es wäre sehr ansehnlich und der Blick vom Turm herausragend. Das mache ich gern, lässt sich allerdings nicht am Wege erledigen, denn der Altan ist verschlossen. Die Rezeptionistin hat den Schlüssel und gibt ihn gern. Und möchte ihn natürlich wieder haben. So mache ich mich auf den Weg. Und wirklich, nur vom Altan genannten Turm hat der Besucher einen freien Blick, denn er ist höher als die Bäume und Büsche ringsum. Ich genieße ihn, obwohl es recht wolkig ist, die Fernsicht bescheiden.
Malerisch fügt sich Herrnhut in die Landschaft. Und es ist dem Ort anzusehen, dass er nicht natürlich gewachsen ist, wie es gerade kam und nötig war, sondern planvoll und zweckmäßig durch die Brüdergemeine angelegt. Ich gebe den Schlüssel an der Rezeption zurück. Ich erzähle, was ich die letzten Tage unternommen habe und man ist sehr angetan und begeistert von dieser Pilgerwanderung. „Alles Gute für die letzte Etappe“, ruft man mir noch zu und los geht’s. Noch einmal führt der Weg über den Hutberg und durch Felder nach Berthelsdorf, welches ich nur kreuze.
Hinter dem Dorf sind die Felder wunderschön mit rot blühenden Mohnblumen und blauen Kornblumen durchsetzt. Zur Freude der Augen und der Seele. Sicher zum Ärger des Bauern. Der Wald nimmt mich auf. Tiefes grün. Einen kurzen Abstecher genehmige ich mir, zum Hirschberg. Ein kleiner Basaltdurchbruch. Und sehr schön beblüht mit Natternkopf und Sternmiere. Der Blick geht bereits zum Löbauer Berg. Berthelsdorf ist die nächste Ansiedlung. Ein Weidezaun quer über den Weg versperrt den Durchgang dahin. Auf der Wiese riesige hellbraune zottelige Rinder mit fast einem Meter langen Hörnern. Sie sehen knuffelig aus, aber es empfiehlt sich nicht, zu nahe zu kommen. Selbst ein nur nett gemeinter Schwenk der Hörner hätte schwerwiegende Folgen. Erstaunlich, dass die Viecher nur von Gras und Grünzeug so dick und groß werden. Na, bei den Elefanten geht das ja auch. Die trifft man hier aber nur selten.
Nun beginnt der weniger schöne Teil der nicht so langen Etappe. Von Berthelsdorf bis zum Abzweig auf den Löbauer Berg nur Asphalt und Straße, zum Schluss sogar fast zwei Kilometer auf einer vielbefahrenen Piste. Die ist gerade neu hergerichtet. Offiziell führt sogar der Wanderweg hier entlang. Und ist kreuzgefährlich. Der Pilger hat nur die Chance, sich von dem Damm, auf dem die Straße verläuft, hinab ins Feld zu retten bei dem Verkehr. Die Bankette ist zu schmal, um auf ihr zu laufen. Das ist unglaublich! So ist diese letzte Etappe wie ein Konzentrat der ganzen Pilgerreise auf der Via Sacra. Abschnitte, die man eben am besten schnell vergisst, wie diesen oder die oftmals öden Strecken durch die Vororte und Gewerbeansiedlungen. Und dann eben das genaue Gegenteil, wunderbare schmale Wege und Steige, lieblich bis schroff, Natur pur und Schönheit. Und die oft wundervollen sakralen architektonischen Perlen, ebenso die Volksarchitektur oder das nächste Ziel, der gusseiserne Löbauer Turm.
Nach mit Glück überlebter Straßenbelatschung wieder die vielseitige üppige grüne Natur am Löbauer Berg mit unzähligen blühenden Fingerhüten. Ich ersteige den Turm und habe noch einmal sozusagen den Überblick. Quasi die ganze Pilgerrunde liegt ausgebreitet vor mir, der Blick nach Westen in die Kamenzer Richtung, wo die Pilgerreise begann, dann Bautzen, im Uhrzeigersinn weiter die Königshainer Berge, die Landeskrone, das Zittauer Gebirge, die Berge der Lausitz. Der ganze Kreis schließt sich und es überrieselt mich angenehm. Das alles abgelaufen, angesehen, auch befühlt und betastet, geschmeckt. Rund 280 Kilometer. Wie viele Biere? Das ist egal. Ich gönne mir noch eines an der Turmbaude, mit dem ganz besonderen Bewusstsein, diese Tour gelaufen zu sein.
Der Rest des Weges ist denn auch herrlichste Kür, hinab nach Löbau, durch den urigen Laubwald, durch die Lindenallee zum Markt und zur St. Nikolaikirche. Vor wie vielen Tagen stand ich schon hier, nach gerade einmal den ersten vier Etappen der Via Sacra. Unvorstellbar damals, dass man doch so bald wieder hier ankommt und die Runde vollendet hat. Ich könnte glatt noch einmal ansetzen, alles das beachten und einbauen, was ich übersehen oder nicht bemerkt habe. Doch der fast normale Alltag ruft wieder, ich habe inzwischen Gewissheit, dass ich mit meinen Wandergruppen starten kann. Und ein wenig freue ich mich auch auf das von mir mit viel Zeit und angenehmer Mühe eingelegene eigene Bett. Das ist auch was. Auf zum Bahnhof. Der Zug bringt mich wieder bis fast nach Hause. Ich bin voller Dankbarkeit und Freude über diese schöne Pilgerzeit, die so wunderbar das Coronavakuum füllte und mir so viel Neues zeigte. Gerne wieder.